Verbundene Lebenswege
Hans und Sigrid Ard feierten eine Dreifachjubiläum
Es ist ein gelöster Moment: Sigrid und Hans Arlt sitzen an einem Tisch. Der Kaffee ist getrunken, das Gebäck fast aufgeknabbert und beide albern ein wenig herum. Der Tisch steht nicht ganz in der Mitte des Raumes, der zum Martha Müller Grählert-Museum gehört. Zu ihrem Museum. Gerade vor ein paar Tagen hatten sie beide zur großen Party in die Lange Straße 30 in Barth eingeladen. Hans feierte seinen 80. Geburtstag, beide zusammen ihren 55. Hochzeitstag und das Museum in der alten Druckerei besteht seit zehn Jahren. Sie sitzen jetzt mit dem Autor alleine in diesem Raum voller Erinnerungen an Martha Müller-Grählert. Gerade haben sie ihre Lebensgeschichte erzählt und nun fällt die Konzentration von ihnen ab. Ein wenig Stolz auf das Geschaffene spiegelt sich in ihren Gesichtern.
Dabei sind in den vergangenen zwei Stunden Wörter wie: Panzer, Vertreibung, Exmatrikulation, Trennung, Ausreise, Rückgabe, Sanierung, Neubeginn gefallen. Aber es ging auch um Liebe, Treue, Moral, Familie und Lebensaufgabe.
Hans Arlt wurde am 8. Mai 1939 im Sudetenland in der Nähe des heutigen Decin geboren. Damals wurde das Gebiet gerade dem Deutschen Reich angeschlossen. An seinem 6. Geburtstag hielt vor dem Haus ein Panzer der Roten Armee. Als die sowjetischen Soldaten hörten, dass der kleine Hans Geburtstag hatte, spendierten sie ihm Schokolade und eine Besichtigung des Panzers. Die Tschechen ein paar Wochen später waren nicht so freundlich. Innerhalb einer Stunde musste die Familie ihre Sachen packen und sich auf den Weg nach Deutschland machen. Hans Arlt wächst in Cunnersdorf/Königsstein auf. Seine Mutter war Waldarbeiterin. Sie musste die Familie ernähren. Der Vater litt an TBC. „Ich bin meiner Mutter sehr dankbar, dass sie mir ermöglicht hat, nach der 8. Klasse die Oberschule zu besuchen. Das war damals durchaus nicht üblich“, sagt Hans Arlt. So konnte er später in Ilmenau Elektrotechnik studieren. Dort lernte er auch Sigrid kennen. Ihre junge Beziehung wurde jedoch schnell auf eine Probe gestellt. Nach einem Treffen seiner Seminargruppe mit amerikanischen Soldaten wurde Hans Arlt samt Mitkommilitonen 1961 exmatrikuliert und zur Bewährung in der Produktion ins Kabelwerk Meißen geschickt. Diese Situation nutzte Sigrid, um sich von ihrem ungeliebten Studium zu trennen und als Medizinisch Technische Assistentin in Rostock zu arbeiten. „Ich wollte immer im medizinischen Bereich arbeiten“, beteuert sie. Als sich die 12 Studenten in der Produktion bewährt hatten, studierte Hans in Ilmenau und Sigrid arbeitete in Rostock. „Es war schon eine Prüfung für uns“, so Hans. „Wir waren uns sicher“, ergänzt Sigrid. Und Hans schließt das Kapitel: „Wir haben uns jeden Tag geschrieben. Es war kein Problem, treu zu bleiben.“ Also verlobten sie sich Silvester 1962. Zwei Jahre später, als Hans sein Diplom bestanden hatte, heirateten sie. Hans Arlt begann im Starkstrom-Anlagenbau in Dresden zu arbeiten. Als Siegrid 1965 nach Dresden zog, dort anfing zu arbeiten und ihr erster Sohn Wolfgang ein Jahr später geboren wurde, war das Glück perfekt. 1970 kam mit Wieland der zweite Sohn hinzu. Doch fünf Jahre später erfolgte der größte Einschnitt im Leben der Familie Arlt. Hans verlor seine Arbeit als Lehrer in der Betriebsakademie, nachdem er einen nichtsozialistischen Witz an der falschen Stelle losließ.
Für beide war das Maß jetzt voll. Hans hatte ja schon schlechte Erfahrungen in der Studienzeit gemacht und in Sigrids Familie war die Enteignung der väterlichen Druckerei in Barth immer noch eine offene Wunde. 1976 stellten sie den Ausreiseantrag, der 1979 genehmigt wurde. Damals waren Hans 39 und Sigrid 37 Jahre alt.
Der Start in ein neues Leben wurde ihnen leicht gemacht. „Wir sind in Hamburg gut aufgefangen worden. Man hat sich um uns gekümmert“, erinnert sich Sigrid. Das neue Leben hieß für Hans Arbeit bei der Allianz als Schadensachverständiger für Elektrotechnik. Ein Job, der ihn um die ganze Welt führte. 15 mal Ägypten, acht mal China, die USA und Brasilien zählt er auf. Sigrid arbeitete als MTA bei einem Internisten. Die beiden Söhne legten das Abitur ab und studierten.
Mit der Wende ergaben sich neue Lebenswege. Die Mutter von Sigrid, Hilde Dahlfeld, lebte damals im Barther Reifergang 68. Sie, die Witwe von Adolf Dahlfeld, wollte das Haus in der Langen Straße 30 zurück und das Testament von Martha Müller-Grählert erfüllt sehen.
1920 hatte ihr Mann das Haus „Anthonys Erben“, das eine Druckerei beherbergte, gekauft. Daraufhin brachte Adolf Dahlfeld das „Barther Tageblatt“ heraus. 1925 lernten sich Martha Müller-Grählert, die damals nach Zingst zurückkehrte, und die Familie Dahlfeld über das Geschäftliche auch privat kennen. Die Freundschaft wurde so innig, dass Martha Müller-Grählert ihr literarisches Werk testamentarisch an die Familie Dahlfeld vererbte.
1948 erfolgte die entschädigungslose Enteignung des gesamten gewerblichen und privaten Besitzes der Familie Dahlfeld. In dieser Zeit gingen auch der Nachlass von Martha Müller-Grählert und die gebundenen Jahrgänge des Barther Tage- und Wochenblatts verloren.
Mit dem Rückgabeantrag für das Haus in der Langen Straße 30 begann die Familie nun den Besitz von Adolf Dahlfeld zurück zu holen. Doch es war nur ein Rückkauf möglich. Nach einer umfangreichen Sanierung wurde das vollständig vermietete Haus wieder hergestellt. „Wir empfanden damals eine moralische Verpflichtung gegenüber unserer Familie“, erklärt Hans Arlt. Nach und nach wurde das Haus leergezogen, einzig der Buchladen blieb bis heute. Es bestand nun die räumliche Möglichkeit, dem Haus eine andere Nutzung zukommen zu lassen. „Meine Mutter litt sehr darunter, dass das Versprechen, das vollständige Werk von Martha Müller-Grählert zu veröffentlichen, noch nicht erfüllt wurde. So machten sich Sigrid und Hans an diese Mammutaufgabe. Als Rentner war für sie nun die Zeit gekommen, das Familienversprechen zu erfüllen. Nach einem Jahr Vorarbeiten wurde 2009 das Museum eröffnet. Als erstes Buch erschien der „Sünnenkringel“ von 1925/27 in einer Neuauflage. Die aufwendige Recherchearbeit in den Archiven der Region war mühselig. Hin und wieder wurden aus privater Hand Blätter des Barther Tageblattes ins Museum gebracht. Auch das Internet half und förderte viel Unbekanntes ,besonders aus der Berliner Zeit der Heimatdichterin und gebürtigen Bartherin, an den Tag. Nach und nach füllte sich das Grählert-Museum in Barth. 325 Gedichte und 62 Prosastücke entdeckten Sigrid und Hans Arlt. „Drei Gedichte fehlen uns noch“, gibt der 80-Jährige zerknirscht zu.
Das Museum zeigt nun die Geschichte des Verlages „Anthonys Erben“, der Druckerei, der Familie Dahlfeld und des Malers Wilhelm Schmidthild, ein Zeitgenosse Martha Müller-Grählerts, der sehr viele Illustrationen im Barther Tageblatt und auch die „Barther Mappe“ mit Zeichnungen aus Barth veröffentlicht hat.
„Ich bin froh, die Aufgabe erhalten zu haben, das Versprechen meines Vaters zu erfüllen und das Werk von Martha Müller-Grählert zu pflegen und zu veröffentlichen“, sagt Hans Arlt.
Das Museum ist in der Regel von Mittwoch bis Sonnabend geöffnet. Hilfe bekommen die noch in Hamburg wohnenden Sigrid und Hans Arlt von BQB und vom Förderverein des Vineta-Museums. Die Zusammenarbeit mit dem Heimatverein Barth und dem Zingster Heimatmuseum bezeichnen beide als gut. 2012 erhielten sie den Martha Müller-Grählert-Preis der Gemeinde Zingst.
„Wir wollen auf Spendenbasis arbeiten, ohne Fördermittel. Wir wollen keine Last sein“, erklärt Hans Arlt. Das MMG-Museum bereichert auch das kulturelle Angebot der Stadt Barth mit Veranstaltungen zu Martha Müller-Grählert (die nächste wird für den 20. Juli angekündigt).
„Wir können hier auch ankündigen, dass wir mittelfristig für immer nach Barth kommen“, so Hans Arlt. Sigrid schaut ihn lächelnd an: „Er ist in der Lage, seine Träume zu erfüllen, auch ein Grund, warum ich ihn liebe. Wir gehören zusammen.“
Und dann begann das eingangs erwähnte gemeinsame Albern. Fröhlich in das 56. Ehejahr!